Erinnerungen Wilhelm Hoegners an die Landtagssitzung 1933

"Der neuernannte bayerische Landtag wurde auf Ende April 1933 einberufen. Der zum Landtagspräsidenten ausersehene nationalsozialistische Minister Hermann Esser hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Eröffnung des bayerischen Parlaments zu einer großen nationalsozialistischen Siegesfeier auszugestalten. Aus diesem Grund wurden auch jene sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten, die sich in Schutzhaft befanden, zur Teilnahme an der Landtagssitzung in Freiheit gesetzt. ... In unserer Fraktionssitzung, die vor der Landtagseröffnung stattfand, bekamen wir zum ersten Mal ein Bild, wie es in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches zuging. Der sozialdemokratische Journalist (und Abgeordnete Michael, F.M.) Poeschke aus Erlangen, der eben aus Dachau entlassen war, humpelte mühsam, verbeult und zerschlagen, ins Zimmer. Wir sprangen von unseren Stühlen auf. Wir zogen ihm das blutige Hemd vom Leib. Vom Nacken bis zu den Oberschenkeln und Ellenbogen war die haut blauschwarz verfärbt, an vielen Stellen geplatzt, das rohe Fleisch von Blutgerinseln verklebt. Entsetzen kam über uns, knirschender Zorn. Wir schrien wie kleine Kinder vor Wut. Der Mann war völlig verstört, er zitterte an allen Gliedern und weinte immer wieder dazwischen, während er uns erzählte, was mit ihm geschehen war: Man hatte ihn schon im März in Schutzhaft genommen, aber erst vor einigen Tagen, als der Befehl, die Landtagsabgeordneten freizulassen, schon erteilt war, mit vielen anderen politischen Gefangenen nach Dachau gebracht. Bei der Ankunft im Lager wurden die Intellektuellen, besonders Schriftleiter, von der SS zu einer eigenen Abteilung zusammengestellt. Unser Kollege wurde zunächst in eine Zelle gesteckt. Man ließ ihn dort über eine Stunde lang stehen, Gesicht gegen die Wand. Hinter ihm, unter der offenen Zellentür, stand ein SS-Mann mit geladenem Gewehr. Von Zeit zu Zeit knackte er am Gewehrschloß herum. Dazu drohte er, bei der geringsten Bewegung des Gefangenen zu schießen. Dann wurde der Häftling in einen abgelegenen Raum im Lager gebracht. Riesige SS-Kerle, lange, derbe Stecken in den Händen, warteten bereits. Die Stöcke waren an der Spitze gespalten und mit Geigenharz verschmiert. Zitternde Gefangene standen in eine Ecke gedrängt. Dann ging es los. Man riß den Opfern die Hemden und Hosen herunter. Dann wurde einer nach dem andern auf den Boden gelegt und vor den Augen seiner Leidensgefährten geschlagen. Je mehr einer schrie, je wilder sich sein zitternder Leib aufbäumte, umso wütender schlugen die Henkersknechte zu. Ein früherer kommunistischer Landtagsabgeordneter aus Franken, ein lungen- und nervenkranker, ganz abgemagerter Mensch, wurde geprügelt, bis ihm die Haut nur noch in Fetzen um die herausstehenden Knochen hing. Einem kleinen Juden schlugen sie die Hoden zu Brei. Glücklich das Opfer, das früher aus der Reihe geholt und nicht bis zuletzt aufgespart wurde! Die Geschlagenen lagen wie Lumpenbündel in den Ecken und wußten nichts mehr. Als alles vorüber war, wurden die Mißhandelten in ihre Zellen geworfen. Am Fensterkreuz hing ein Strick. Die Gefangenen sollten sich aufhängen, so lautete der Befehl. Die kleine Jude tat es, seine Peiniger schnitten ihn hohnlachend ab. Die Opfer wälzten sich in dieser Nacht schlaflos, von brennenden Schmerzen gequält, auf dem bloßen Stroh. Am andern Tag traf die Weisung, unseren Kollegen freizulassen, im Lager ein. Seine Kameraden mußten ihn unter die Arme nehmen und stundenlang auf- und abführen, bis er sich wieder fortbewegen konnte. Jetzt schluchzte er und klagte über die Schreckensbilder, die ihn verfolgten.

Wir rasten, wir schrien wild durcheinander. ...
Aber der Fall durfte kein marxistisches Greuelmärchen bleiben. Ich beantragte, die Bayerische Volkspartei, die mit ihrem Grafen Quadt in der Regierung vertreten war, zu verständigen. Das wurde angenommen. In einem Landtagszimmer zeigten wir den zerfleischten Rücken unseres Kollegen einem Juristen der Bayerischen Volkspartei. Er war furchtbar erschüttert und versprach, durch Vermittlung des Ministers Quadt Abhilfe zu schaffen. ... Einige Wochen später aber war Graf Quadt zu den Nationalsozialisten übergetreten. ...

Bei der Landtagseröffnung ließen die Nationalsozialisten, Meister der Regie, alle ihre Künste spielen. Unter dem Bilde des Schöpfers der erste bayerischen Verfassung, des ersten bayerischen Königs Max, thronte der neue Landtagspräsident, Minister Hermann Esser,...
Mit Stolz konnte Esser in seiner feierlichen Ansprache darauf hinweisen, dass heute die Vertreter des ganzen bayerischen Volkes sich unter das Hakenkreuz beugten. Bei dem Worte ganz beschrieb er einen Halbkreis mit der rechten Hand. Er reichte von den in brauner SA-Uniform erschienenen Nationalsozialisten und Bauernbündlern über die zerknirscht und geduckt dasitzenden Vertreter der Bayerischen Volkspartei bis zu uns Sozialdemokraten auf der äußersten Linken. Dabei sah Esser erst wohlgefällig auf die neben ihm sich blähenden neuen Naziminister, dann hob er den Blick zu den Zuschauertribünen, wo in der Ministerloge zwei Männer in SA-Uniform saßen: der Reichsstatthalter General von Epp, schlank, selbstgefällig in der Pose des heldischen Kriegers, und der Stabschef der SA, Hauptmann Röhm, dick, breit, aufgeschwemmt, verquollen, mit brutalem, rot zerhacktem Gesicht. ...

Jetzt hob Esser die Hand gegen sie zum römischen Gruß. Da sprangen die uniformierten Naziabgeordneten auf, schrien Sieg Heil! und hoben gleichfalls die Hände ... Hierauf mußten wir die langatmige und schwerfällige Rede des neuen bayerischen Ministerpräsidenten Siebert über uns ergehen lassen. ...
Die Erklärung der sozialdemokratischen Landtagsfraktion wurde von unserem alten Parlamentarier Roßhaupter mit nachdrücklicher, fast herausfordernder Stimme verlesen. Ich hatte sie im Auftrag der Fraktion verfaßt, einige Stellen waren auf Auers Wunsch abgemildert worden. Gegen meinen Satz „Das politische Schlachtenglück wechselt, keines Menschen Werk ist von ewigem Bestand“ legten die Nationalsozialisten lärmend Widerspruch ein. ...

Dann sprach noch der nationalsozialistische Innenminister Wagner, ...
Der Innenminister beschuldigte seinen Vorgänger Dr. Stützel, daß dieser versucht habe, die nationalsozialistische Revolution mit Gewalt aufzuhalten, und der Polizei befohlen habe, auf die Nationalsozialisten zu schießen. Empörte Zwischenrufe der nationalsozialistischen Abgeordneten wurden laut. Da stand der frühere Ministerpräsident Dr. Held in seiner Abgeordnetenbank zögernd auf und stammelte einige Worte von Irrtum und Mißverständnis. Aber die Nazis schrien ihn mit einem Wutgebrüll nieder, er duckt sich und rutschte wieder in seine Bank. So tief waren die Gegner der Nationalsozialisten gesunken, dass sie die rechtmäßige Verteidigung des bayerischen Staates gegen den nationalsozialistischen Aufruhr als Unrecht empfanden und sich die Gunst der Sieger durch die Beteuerung erkaufen wollten, sie hätten an Widerstand gar nicht gedacht.

Selbstverständlich stimmte die Bayerische Volkspartei dann auch für das von der neuen Regierung vorgelegte bayerische Ermächtigungsgesetz. Wie im Reichstag, blieben wir Sozialdemokraten auch im bayerischen Landtag als Gegner eines Gesetzes, das die gesamte Staatsgewalt der Regierung auslieferte, allein und in der Minderheit. Noch einmal zogen wir uns den entrüsteten Tadel der Nationalsozialisten zu, als wir am Schluß der Sitzung beim Heil Hitler! des Landtagspräsidenten uns nicht von unseren Plätzen erhoben. Aber da hatten die ehemaligen Bauernbündler schon das Horst-Wessel-Lied angestimmt, und wir benutzten diese Gelegenheit, uns aus dem Saal zu entfernen. So endete die erste und einzige Sitzung des bayerischen Landtags unter der Herrschaft der nationalsozialistischen Partei. Kaum ein halbes Jahr später war auch die bayerische Volksvertretung abgeschafft und unter ein Jahrhundert bayerischer Parlamentsgeschichte der Schlußstrich gezogen."

(Wilhelm Hoegner, Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik 1933. München, 1977, S. 169 177)